Raus aus der Jogginghose

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Meine Kolumne im LGBTQI+ Magazin MyGay

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Ja, Corona ist eine echte Bitch und zwingt uns auf vieles zu verzichten. Unsere Regierung besteht den Stresstest leider nicht, trotz Millioneninvestitionen in Berater, direktem Draht zur Wissenschaft und einem so konstruktiven Umgang zwischen Opposition und Regierung wie nie. Auch die Bevölkerung hat verhältnismäßig gut mitgemacht. Es wäre schön, wenn einige Abgeordnete der CDU ihre Spitzfindigkeit und ihren selbstsüchtigen Mut in uns alle investiert hätten, statt in sich selbst. Ich glaube an die Wissenschaft, aber in der Politik ergibt Minus (Herr Spahn) und Minus (Herr Scheuer) nicht gleich Plus.

Plötzlich ist es wieder sehr real welche Freiheiten wir besitzen, normalerweise. Was wir vermissen, was uns ausmacht, was wir brauchen. Es sind nicht nur große Dinge wie der Kontakt zu den Menschen, die über Blut hinaus zu uns gehören und natürlich zu Menschen mit großen Dingern. Es sind die Sachen, die uns die Last des Alltags vergessen lassen. Die Dinge, die unsere Verpflichtungen erträglich machen. 

Wenn ich mich heute nackt vor den Spiegel stelle, überkommt mich nicht mehr die überschwängliche Euphorie und Faszination wie früher, auch wenn ich selbstverständlich noch immer fantastisch aussehe, aber irgendwie ist es, als hätte ich etwas von meinem Glanz verloren. Es mag am Abdruck der Jogginghose liegen, oder an den Striemen der extra kuschligen und warmen Strümpfe. Vieleicht liegt es auch an der Grundhaltung, die etwas abgeschlagen wirkt, oder an der Frisur, die funktional ist, aber von Glamour weit entfernt ist. Ich wirke wie nach einer durchzechten Nacht im Katerrausch, ohne die Party erlebt zu haben.

Dieses Bild will ich so nie wieder sehen! Ich will meinen Glanz zurück, mein Strahlen, mein pompöses Makeup und vielleicht ein Tattoo.

Es gab Zeiten und Orte, wo ein Tattoo ein Initiationsritus für die Eingliederung in das Erwachsenenalters galt. An anderen Orten und anderen Zeiten war es das sichtbar machen einer Wunde, die das Leben einem zugetragen hat. Kein Grafitti vom Ex, nach dem Motto ich war da. Ein Schmuckstück oder eine Erinnerung an ein wichtiges Datum.

Makeup war einst eine Kriegsbemalung, um den Krieger oder die Kriegerin auf die Schlacht vorzubereiten. Egal, ob es die Schlacht auf dem Feld oder im Kindbett war. Es hat ein Bild gezeichnet von dem Mut, den man brauchte, um der kommenden Herausforderung gewachsen zu sein. Für mich als Queen ist es immer noch so, aber ich trage es nicht mehr so häufig und das liegt nicht daran, dass es keine Schlachten zu schlagen gibt. Besonders, wenn ich an die Grundgesetzänderung des Artikel 3 denke.

Auch die Kleidung war ein Symbol für den eigenen Stand. Das eigene Haus, den Beruf oder die Ehre die man zu tragen geschworen hatte. Den Platz, den man in der Gesellschaft eingenommen hat. Manchmal wie eine Rüstung, manchmal um uns Größe und Würde zu geben und wenn ich an diverse Partys denke auch gerne mal genau das Gegenteil. All das ist heute sichtbar in Serien, Filme und Songs, die der Unterhaltung dienen, aber wo sind wir dabei?

Wir haben diese Dinge nicht vergessen, doch irgendwie Ihren Wert. Heute können wir alles tun, theoretisch. Wir können jeden Beruf ergreifen, jeden Menschen heiraten. Wir können reisen und die Welt entdecken. Kurz gesagt wir haben Freiheit. Als Deutsche haben wir Freiheit. In der verhältnismäßig kurzen Episode von einem Jahr und selbst wenn es noch ein weiteres Jahr dauert, ist es nichts im Vergleich zu der Reise und zu den Kämpfen, die diejenigen erleben mussten, die uns diese Freiheit erarbeitet haben.  Wenn ich mich heute genervt und frustriert in meiner Jogginghose sehe, kann ich nicht anders, als mich zu schämen. Klar, ist auch heute noch der Weg für die einen steiniger als für andere, aber haben wir nicht in den letzten 100 Jahren bewiesen, wohin man gemeinsam mit einem Ziel kommen kann? Es ist Zeit die Freiheit wieder zu würdigen. Die Kriegsbemalung und Rüstung anzulegen. Nicht für den Rest der Welt, nicht für die wenigen Menschen, die man aktuell sehen kann, sondern für einen selbst. Es ist Zeit, die Uniform wieder anzulegen, um den eigenen Stolz wieder zu finden. Und vielleicht ist es, wenn Corona endlich besiegt ist auch Zeit für ein Tattoo. Fest steht ohne Mut und Kampfeswillen, werden wir nicht die Vorbilder für die nächste Generation Einhörner, sondern die erste Generation “alter” Kings, Queens und allem dazwischen, die sich gehen lassen, nur noch Kritik an der Welt üben und vergessen haben, wie es ist zu neuen Ufern aufzubrechen. Die Regeln neu zu Schreiben und mit selbstbestimmter Eigenverantwortung in die Zukunft zu treten. Für mich ist die aktuelle Situation vielleicht ein Geschenk, denn ich habe wieder das Feuer, welches ich brauche, um die Welt im Sturm zu erobern. Macht es mir gleich, steigt raus aus der Jogginghose und schaut nicht auf die Dinge, die ihr aktuell nicht könnt, sondern auf die Dinge, die Ihr könnt. Wir haben genug für selbstverständlich genommen. Ab sofort heißt es wieder Brust raus und Beine gestreckt.